Witold Dowgint-Nieciunski, 1915 in Polock (heute Polen) geboren, wurde Anfang März 1942 wegen Untergrundtätigkeit in Warschau von der Gestapo verhaftet, nach einem dreimonatigen Gefängnisaufenthalt Anfang Juni 1942 nach Auschwitz verbracht und als Häftling Nummer 41.696 registriert. Dowgint-Nieciunski war in verschiedenen Arbeitskommandos, unter anderem in der Glaserei, in der Unterkunftskammer, als Reiniger in der Kommandantur und in der Poststelle tätig. Im November 1944 wurde er in das Nebenlager Leonberg (in Süddeutschland) des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof (Elsass) überstellt.
Zur Zeit seiner Vernehmung im Januar 1965 war der Zeuge Witold Dowgint-Nieciunski 49 Jahre alt und arbeitete als Nationalökonom in Warschau/Polen.
Hörbeispiel:
Zeuge Witold Dowgint-Nieciunski:
Nie przywiazywalismy wtedy wagi do tego, azeby zapamietac specjalnie poszczególnych eses manów.
Dolmetscherin Kapkajew:
Wir haben damals uns nicht bemüht, die einzelnen SS-Männer im Gedächtnis zu behalten.
Zeuge Witold Dowgint-Nieciunski:
Bylismy przekonani, ze jezeli ktos z nas przezyje i beda odbywaly sie jakies sady nad nimi, to bedzie proces dotyczyl w ogóle obozu w Oswieciumiu, i sama obecnosc wsród zalogi jest juz, bedzie dostatecznym aktem dowodu winy. Nie bedzie trzeba personalnie udowadniac poszczególne winy kazdemu z oskarzonych.
Dolmetscherin Kapkajew:
Wir waren damals der Meinung, dass, wenn wir jemals das Lager überleben und es zu einem Gericht, zu einer Verhandlung über die Tätigkeit dieser Menschen kommt, dann wird man diese Tätigkeit im Lager schlechthin als gesamt, als ganze betrachten. Und alleine die Tatsache, dass man zu der Besatzung dieses Lagers gehörte, würde genügen, dass man diese Person für schuldig erklärt, also dass es nicht notwendig sein wird, die Beweise der bestimmten Schuldtaten, dieses oder anderes, im Gedächtnis zu behalten.
(132. Verhandlungstag, 29.1.1965)
Erläuterung:
In NS-Prozessen hatten die bundesdeutschen Schwurgerichte den Angeklagten ihre individuelle Schuld nachzuweisen. Festzustellen war die strafrechtlich relevante Tat, die dem einzelnen Täter zuzurechnen war. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess – nur Mord konnte zu diesem Zeitpunkt noch angeklagt werden, alle anderen Taten waren bereits verjährt – ging es um die Frage, ob die Angeklagten sich des Mordes oder der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht hatten. Die vorsätzliche Tötung eines Menschen ist strafrechtlich dann ein Mord, wenn der Täter die Tat aus Motiven begeht, die als niedrig gelten. Aus niedrigen Beweggründen handelt ein Täter, der einen Menschen zum Beispiel aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier, aus Rachsucht oder aus Rassenhass (täterbezogene Merkmale) tötet. War die Tötung heimtückisch oder grausam oder geschah sie mit gemeingefährlichen Mitteln oder wurde sie von dem Täter verübt, um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken (tatbezogene Merkmale), dann handelte es sich bei der Tötung ebenfalls um Mord. Bei den Verfahren gegen NS-Täter gelangten die bundesdeutschen Gerichte meist zu der Erkenntnis, dass die Tötungen von Juden und anderen Opfern aus Rassenhass und auf heimtückische und grausame Weise geschahen. Der Beihilfe zum Mord machte sich schuldig, wer einem Mörder „durch Rat oder Tat wissentlich Hilfe“ leistete. Wissentlich ist die Hilfe aus juristischer Sicht, wenn der Gehilfe in Kenntnis der Tatumstände handelt, wenn er also weiß, dass der Täter aus niedrigen Beweggründen handelt und die vorsätzliche Tötung grausam oder heimtückisch ist oder mit gemeingefährlichen Mitteln verübt wird.
Die von dem Zeugen Dowgint-Nieciunski geäußerte Rechtsauffassung wurde auch in NS-Prozessen von bundesdeutschen Juristen vertreten. Auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war dieser Ansicht. Die Verbrechen in einem Lager wurden als eine Tat, als ein Makroverbrechen betrachtet, für das alle verantwortlich zu machen waren, die daran beteiligt waren. Das Frankfurter Gericht im Auschwitz-Prozess und auch der Bundesgerichtshof (Karlsruhe) haben diese Rechtsauffassung jedoch verworfen.