Ella Lingens

Lingens GS 085

Ella Lingens (geb. Reiner), 1908 in Wien geboren, wurde im Oktober 1942 wegen „Judenbegünstigung“ von der Gestapo verhaftet und nach viermonatiger Polizeihaft nach Auschwitz transportiert. Lingens hatte polnischen Juden zur Flucht in die Schweiz verhelfen wollen. Sie erhielt als „Reichsdeutsche“ und politischer Häftling die Nummer 36.088. Die Medizinerin Lingens wurde nahezu ausschließlich im Frauenkonzentrationslager in Birkenau (Lagerabschnitt BIa) als Häftlingsärztin im dortigen Krankenbau eingesetzt. Anfang Dezember 1944 wurde sie in das Konzentrationslager Dachau (bei München) überstellt und dort Ende April 1945 von der amerikanischen Armee befreit.

Zur Zeit ihrer Vernehmung im März 1964 war die Zeugin Ella Lingens 55 Jahre alt und als Sachbearbeiterin im Österreichischen Bundesministerium für soziale Verwaltung in Wien tätig.

Buchpublikationen:

  • Ella Lingens: Eine Frau im Konzentrationslager. Wien, Frankfurt am Main, Zürich: Europa Verlag, 1966, 44 S.
  • Ella Lingens: Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Peter Michael Lingens. Wien, Frankfurt am Main: Deuticke Verlagsgesellschaft, 2003, 335 S.

Hörbeispiel:

Ich weiß aber, dass alle SS-Ärzte so ihren privaten Ehrgeiz hatten und irgendwie das Gefühl hatten, sie wollen aus dieser Dienstzeit auch einen Gewinn holen, und jeder hat sich was ausgedacht. Also Doktor König zum Beispiel hat Versuche machen wollen über die Frage der Blutsenkungsgeschwindigkeiten. Und Mengele hat also seine Versuche gemacht, zum Teil diese ethnologischen Beschreibungsgeschichten, die Zwillingsgeschichten. [...] Und ob jetzt die Leute, diese SS-Ärzte dazu gefragt haben, ob sie das tun dürfen oder nicht, weiß ich nicht. Ich nehme an, nein, weil überhaupt jeder dort machen konnte, was ihm einfiel.
(22. Verhandlungstag, 2.3.1964)

Erläuterung:

SS-Mediziner verrichteten in Auschwitz ihren Dienst als sogenannte Truppenärzte im SS-Krankenrevier, behandelten also SS-Personal. Die SS-Ärzte waren aber auch im Lager in den Krankenstationen (den sogenannten Krankenbauten) als SS-Lagerärzte eingesetzt. Dort behandelten sie aber nicht die kranken Häftlinge, dies war Aufgabe der als Ärzte und Pfleger tätigen Lagerhäftlinge. Die SS-Lagerärzte hingegen entschieden darüber, wie lange sich ein Kranker im Krankenbau aufhalten durfte. War der kranke Häftling in den Augen des SS-Arztes wieder „arbeitsfähig“, wurde er ins Lager entlassen. Bestand keine Aussicht auf Genesung, war der Häftling länger als zwei Wochen im Krankenbau und war das Häftlingskrankenrevier überdies überfüllt, wurden die Kranken zur Vergasung selektiert.

SS-Ärzte führten auch regelmäßig Selektionen bei der Ankunft der Transporte („Rampendienst“) und bei Appellen im Lager durch. „Wissenschaftlich“ profilieren konnten sich die SS-Ärzte durch pseudomedizinische Experimente, die in großer Zahl in Auschwitz an Häftlingen durchgeführt wurden. So wurden unter anderem Versuche zur Massensterilisation von Frauen gemacht. Die Zeugin Ella Lingens hat während ihrer Tätigkeit als Häftlingsärztin im Frauenlager in Birkenau neben den genannten SS-Ärzten Dr. Josef Mengele und Dr. Hans Wilhelm König auch die meist verbrecherische Arbeit vieler anderer SS-Ärzte beobachten können. Im Birkenauer Frauenlager begegnete sie einem Mediziner, mit dem sie 1938 an der Universität Marburg/Lahn zusammen studiert hatte: Dr. Werner Rohde. Er nahm sich seiner vormaligen Kommilitonin an, die Häftlingsfrau Lingens war für den SS-Arzt eine „Art Protektionskind“ (Lingens).

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